Von versalzenen Mitochondrien und nicht-Gaußscher Diffusion

Erstmals zeichnet der Forschungsverbund Berlin gleich zwei Nachwuchswissenschaftlerinnen mit dem Marthe-Vogt-Preis aus: die Biochemikerin Dr. Sabrina Geisberger und die Physikerin Dr. Vittoria Sposini.

Als sie an der Universität Erlangen in der Vorlesung von Prof. Dominik Müller saß und hörte, dass zu viel Salz nicht nur den Blutdruck, sondern auch Immunzellen beeinflusst – bis dato wusste niemand so genau warum – hätte es sie sofort „gecatched“. „Alles, was mit Ernährung, Lifestyle und Immunsystem zu tun hat, finde ich total spannend“, sagt Sabrina Geisberger. Nach ersten Studien in ihrer Masterarbeit wechselte sie auf Dominik Müllers Anregung an die Freie Universität Berlin und begann ihre Doktorarbeit in Müllers Labor am Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin (MDC). Sie begann mit der Isolierung bestimmter Immunzellen von Mäusen. Wurden diese in eine salzreiche Nährstofflösung gesetzt, veränderten die Fresszellen (Makrophagen) ihre Funktion. Bei einer Gruppe von gesunden Probanden, die sechs Wochen täglich zusätzlich sechs Gramm in Form von Salztabletten zu sich nahmen, war es genauso: Deren Monozyten, die Vorläuferzellen der Makrophagen im Blut, veränderten ihre Aktivität.

Molekularbiologische Analysen zeigten, dass die Mitochondrien, die „Kraftwerke“ der Zellen, durch das Salz in ihrer Funktion gehemmt worden waren. Die Atmungskette wird unterbrochen und die Zellen bilden weniger ATP, also jenen universellen Kraftstoff für die „chemische Arbeit“, den Zellen für die Proteinsynthese, Muskelarbeit und vieles mehr benötigen. Ein Effekt, der nach einigen Stunden erfreulicherweise wieder nachlässt, wie weitere Tests an Freiwilligen nach Verzehr einer Pizza (= zehn Gramm Salz) zeigten. Ein ständiger übermäßiger Salzverzehr beeinflusst jedoch die Gesundheit negativ. „Die grundlegende neue Erkenntnis ist, dass so ein kleines Molekül wie das Natriumion ein zentrales Enzym der Atmungskette extrem effizient hemmen kann“, sagt Dr. Stefan Kempa, Koautor der im renommierten Fachjournal „Circulation“ publizierten Studie. In Kempas Labor setzt Sabrina Geisberger nun ihre Forschungen als Postdoktorandin fort.

Geisbergers Arbeit wirft ein neues Licht auf diverse Erkrankungen, denn das Salz stärkt nachweislich entzündungsfördernde Immunzellen. „Langfristig werden dadurch chronische Entzündungen befeuert, darunter kardiovaskuläre Erkrankungen mit Endorganschäden an Herz und Nieren sowie Gelenkentzündungen und Autoimmunerkrankungen“, erklärt die Biochemikerin. „Da steckt noch vieles drin, was erforscht werden muss. Zum Beispiel: Welche Zellen erkennen noch Salz – und warum?“ Sie vermutet, dass neben Monozyten und Makrophagen auch andere Immunzellen im Blut und Darm und die Endothelzellen der Blutgefäße sensibel auf das Salz reagieren. Sabrina Geisbergers Erkenntnisse werden nach Ansicht von MDC-Direktor Prof. Thomas Sommer bald Eingang in die Lehrbücher finden.

Die zweite Preisträgerin Dr. Vittoria Sposini präzisierte in ihrer Doktorarbeit durch Berechnungen physikalische Modelle, die auf Albert Einstein zurückgehen. Konkret auf die Einstein-Smoluchowski-Gleichung, welche die Diffusion kleiner Teilchen mit ihrer Beweglichkeit verknüpft. Bevor Vittoria Sposini in die Arbeitsgruppe „Theoretische Physik“ von Prof. Ralf Metzler an die Universität Potsdam kam, studierte sie Physik in Perugia, Bologna und Bilbao. Ihr Doktorvater ist begeistert von ihrem mathematischen, technischen Gespür und der Hartnäckigkeit, mit der sie sich der sogenannten „Brownschen, aber nicht-Gaußschen Diffusion“ annahm. Experimentelle Physiker hatte diese in einer ganzen Reihe von Versuchen und Simulationen beobachtet, die so gar nicht der oben genannten, bekannten Formel entsprachen.

„In der Realität verteilen sich Partikel eben nicht gemäß der Gaußschen Glockenkurve – insbesondere dann nicht, wenn die Umgebung heterogen ist und/oder andere Partikel sie behindern. Wie zum Beispiel in einer lebenden Zelle“, erklärt Metzler. „Anstelle der symmetrischen Gaußfunktion bekommt man etwas viel Komplizierteres.“ Typischerweise werden viel langsamer abfallende Verteilungen gemessen. Und diese lassen sich dank der mathematischen Modelle von Vittoria Sposini nun viel besser berechnen. Der Kniff dabei: Man betrachtet (theoretisch) nicht nur ein Teilchen, sondern mehrere gleichzeitig, die sich aufgrund unterschiedlich dichter Umgebung mit verschiedenen Geschwindigkeiten bewegen. Manche langsamer, andere schneller. Dann wird über die verschiedenen Mobilitäten gemittelt und Grenzwertsätze für eine ausreichend große Anzahl solcher Teilchen gebildet. Ganz ähnlich ist es, wenn ein einzelnes Teilchen auf seinem Weg immer wieder langsamer und schneller wird. Ja, das klingt jetzt kompliziert, vereinfacht aber viele, für die Forschung wichtige Berechnungen. „Die nicht-Gaußsche Diffusion spielt zum Beispiel eine Rolle bei der Ausbreitung von Proteinen in einer lebenden Zelle, von Amöben auf einer Glasplatte oder bei der Berechnung der tatsächlichen Geschwindigkeit chemischer Reaktionen. Aber eben auch bei ganz lebensnahen Dingen“, betont Ralf Metzler. Etwa wenn es darum geht, wie schnell sich ein neuer Virus in der Bevölkerung ausbreiten kann oder wie rasch ein Umweltgift nach einem Chemieunfall durch den Boden ins Grundwasser einsickern wird. Vittoria Sposini setzt nun ihre theoretischen und computergestützten Studien als Postdoktorandin an der Universität Wien fort. „In meiner aktuellen Forschung möchte ich die Ergebnisse meiner Doktorarbeit über nicht-Gaußsche Eigenschaften in heterogenen Systemen nutzen, um ein neues Licht auf die langsame Dynamik zu werfen, die für Systeme typisch ist, die sich dem Glasübergang nähern. Ich konzentriere mich dabei insbesondere auf Systeme aus dem Bereich der weichen Materie", erklärt Vittoria Sposini.

Mit dem Marthe-Vogt-Preis werden herausragende Promotionen in Gebieten gewürdigt, zu denen auch der Forschungsverbund Berlin forscht. Die Arbeit muss jedoch nicht an einem seiner Institute entstanden sein. Der Preis erinnert an die deutsche Pharmakologin Marthe Louise Vogt (1903- 2003), deren Forschung wesentlich zum Verständnis der Neurotransmitter im Gehirn, insbesondere des Ephedrins, beitrug.

Verleihung des Marthe-Vogt-Preises

Die Preisverleihung findet am Dienstag, 2. November, um 18 Uhr im Haus der Leibniz-Gemeinschaft in Berlin statt. Sie ist Teil der Berlin Science Week 2021. Sie wird auch als Livestream übertragen (Dauer: 1:15 St.). Der Link wird hier abrufbar sein: www.fv-berlin.de/karriere/marthe-vogt-preis

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